Gastbeitrag von Pfarrdiakon Tim-Christian Hebold; Bild: Religionsgespräch zu Marburg (1529).
Es ist wohl das Los des Konvertiten, dass er in seiner kirchlichen Wahlheimat nicht immer von allen verstanden wird. Manche Eingeborene fragen sich erstaunt, was es da in ihrer Mitte zu entdecken gibt, das einen solchen Übertritt rechtfertige. Insbesondere diejenigen, die längst mit dem Eigenen hadern und auf Veränderungen aus sind, begegnen dem Konvertiten mit Skepsis und Argwohn. Als jemand, der erst relativ kürzlich – nämlich anno Domini 2017 – zur SELK dazugestoßen ist, kann ich ein Chorälchen davon singen. Natürlich treffe ich in der Regel auf Kirchglieder, die sich freuen, dass da einer von außen zur kleinen Schar der selbstständigen Lutheraner dazugekommen ist. Aber erstaunlich oft kommt es auch zu Gesprächen, in denen ein Ur-SELKi meint, mir nachträglich eine Art Lasterkatalog der Kirche vorlegen zu müssen: Die verstaubte Liturgie, die alten Lieder, die kleinen Gemeinden, die konservative Pfarrerschaft, die Starrheit in der Lehre, die bösen Studenten in Oberursel – spricht all das nicht eigentlich gegen die SELK? Überhaupt, ist nicht der moderne Lobpreis der Freikirchen viel ansprechender? Die theologische Freiheit der Landeskirchen – ist die nicht viel zeitgemäßer? Gibt es nicht auch im Katholizismus unserer Tage so manchen verheißungsvollen Aufbruch? Oft schon habe ich mit dem Gedanken gespielt, auf solche Fragen spaßeshalber mit einem kraftvollen ‚Weiche von mir, Satan!‘ zu antworten. Ich habe es mir bisher verkniffen.
Stattdessen gehe ich gerne dazu über, auf die Schätze hinzuweisen, die es in der lutherischen Lehre und Frömmigkeit zu heben gibt. Wer – wie ich – schon einmal versucht hat, ein ernsthafter Katholik zu sein, ein Katholik, der es auch mit dem Tridentinum ernst nimmt, der weiß, welcher unermessliche Trost der Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen allein durch den Glauben an Jesus Christus innewohnt. „Der Glaub sieht Jesus Christus an, der hat gnug für uns all getan“ (ELKG 525). Wie befreiend ist das denn, bitte? Wer – wie ich – zeitweise eine modern-lobpreisende Gemeinde besucht hat, in der fast ausschließlich ‚Sei mehr wie Jesus!‘-Predigten gehalten wurden, der weiß es zu schätzen, wenn Gesetz und Evangelium sauber unterschieden werden und die Vergebung um Christi willen (propter Christum) im Zentrum des Gottesdienstes steht. Und wie ist das mit dem hl. Abendmahl? Ist es nicht, bei Licht betrachtet, ein schier unbeschreibliches Wunder, das sich da sonntäglich ereignet, wenn der Herr Christus in, mit und unter den Gestalten von Brot und Wein mit seinem wahren Leib und Blut zu uns kommt, um uns selbst den Glauben zu stärken? Wie soll man denn da nicht recht eigentlich ins Staunen geraten? Gleiches gilt auch für die überlieferte Lehre der Kirche. Sie ist einfach er-staunlich! Die englische Schriftstellerin Dorothy L. Sayers, eigentlich Autorin von Kriminalromanen, hat einmal bemerkt: „Wenn wir das in den Glaubensbekenntnissen der Kirche klar bezeugte Drama langweilig finden, dann haben wir diese erstaunlichen Schriftstücke entweder nie wirklich gelesen oder aber so oft gedankenlos rezitiert, daß wir alle Empfindung für ihren Sinn verloren haben.“ Recht hat sie! Und was sagt es über uns aus, wenn wir uns engagierter und innbrünstiger über Stellen- und Finanzpläne unterhalten können als über das Wunder der Inkarnation und „die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (Röm 3,24)?
‚Ja, da mag was dran sein‘, wird einem dann manchmal etwas mürrisch erwidert. ‚Aber das mit dem geschlossenen Abendmahlstisch und dass die Frauen bei uns keine Pastor*innen sein können, das ist trotzdem ein Skandal!‘ Auch an dieser Stelle muss ich meine Gesprächspartner leider enttäuschen (vielleicht erfreue ich sie aber auch insgeheim, indem ich ihnen das Klischee vom erzkonservativen Konvertiten bestätige, der sich vor den eisigen Winden postmoderner Uneindeutigkeit in die vermeintliche Wagenburg SELK geflüchtet hat). Für mich war die Tatsache, dass die SELK auch in diesen Fragen klar ist, nämlich ein weiterer Grund für den Eintritt. Ja, gerade, dass man auch in diesen kontroversen Sekundärfragen bereit war, gegen den Geist der Zeit am Wortlaut der Schrift festzuhalten, hat in mir das Vertrauen geweckt, dass man hier auch in den großen und zentralen Glaubensfragen Standhaftigkeit beweisen würde. „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu“, soll ein nicht unmaßgeblicher Rabbi einmal gesagt haben. Umso mehr sorgt es mich natürlich, wenn ich nun auch bei uns Entwicklungen sehe und erlebe, die, wie ich meine, an die Fundamente rühren. Die Frage der Frauenordination ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Längst geht es um Grundsätzlicheres. Zum Beispiel um das, was die Reformatoren die Klarheit der Schrift (claritas scripturae) genannt haben.
Luther jedenfalls hat diesen Grundsatz mit Vehemenz verteidigt, auch und gerade in seiner Verteidigungsschrift gegen den seinerzeit hippen Humanisten Erasmus von Rotterdam. Das Problem, so Luther, liege nicht bei der Schrift, sondern beim Menschen. Er schreibt: „Ich habe die Beobachtung gemacht, dass alle Ketzerei und Irrtümer in der Schrift nicht aus der Einfachheit der Worte entstanden sind (…), sondern aus der Missachtung der Einfachheit der Worte und aus den gewählten Bildformen oder Folgerungen, die dem eigenen Hirn entspringen.“ Bestes Beispiel hierfür dürfte der Abendmahlsstreit im 16. Jahrhundert gewesen sein, in dem Luthers zahlreiche Kontrahenten sich redlich Mühe gaben, mit einer alternativen Deutung der an sich klaren Einsetzungsworte um die Ecke zu kommen. Trotz all ihrer Bemühungen ließ sich Luther aber beim Marburger Religionsgespräch (1529) nicht dazu verleiten, einen ‚Atlas Abendmahl‘ für die Diskussion in den Gemeinden herauszugeben. Er blieb standhaft – weshalb ihm die zeitgenössische Luther-Biografin Lyndal Roper indirekt vorwirft, „das, was einst eine breite evangelische Bewegung gewesen war, zu zersplittern.“ Mit anderen Worten: Wäre Luther toleranter und kompromissbereiter gewesen, Täufer, Zwinglianer, Calvinisten und Lutheraner hätten friedlich und fröhlich unter dem Dach einer evangelischen Kirche existieren können. Aber was für eine Kirche wäre das gewesen? Sicher keine verlässliche Kirche durch klare Botschaft!
Und wie wäre das heute, wenn – wie es eines der Szenarien im ‚Atlas Frauenordination‘ vorsieht – die Pfarrbezirke der SELK in der Frage der Berufung von Pfarrerinnen unterschiedliche Wege gingen? Freilich, die Sachfrage an sich ist nicht von der gleichen dogmatischen Brisanz wie die christologischen und sakramentstheologischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit. Aber die der Kontroverse zugrundeliegenden hermeneutischen Fragen, die Fragen also nach dem rechten Umgang und Verständnis der Schrift, kommen dem zumindest nahe. Wer garantiert uns denn, dass dieselben Methoden, die die Befürworter jetzt auf Bibelstellen wie 1. Kor 14,33-38 und 1. Tim 2,8-14 anwenden, uns nicht in ein paar Jahren einen ‚Atlas Ehe für alle‘, einen ‚Atlas Allversöhnung‘ und letztlich – horribile dictu! – einen ‚Atlas Auferstehung‘ bescheren? Die Beispiele EKD und Synodaler Weg zeigen, dass solche Entwicklungen nicht so absurd und abwegig sind, wie sie vielleicht zunächst klingen. Was wünsche ich als Konvertit mir nun also für unsere Kirche? Nichts Spektakuläres, gerade keine grundstürzenden Reformen – nur das, was die Apostelgeschichte uns von der ersten Gemeinde berichtet: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ (2,42). Wobei, spektakulär ist das eigentlich schon: Dass es da eine Gemeinschaft gab und nach all den Jahrhunderten immer noch gibt, die mit „erhabener Monotonie“ (Hermann Sasse) dieselbe Heilsbotschaft verkündigt, dieselben Sakramente feiert und denselben Glauben bekennt – den Glauben, „der ein für alle Mal den Heiligen überliefert ist“ (Jud 3). Dass auch wir bei diesem Glauben bleiben, sowohl in den Primär- als auch in den Sekundärfragen, das schenke uns der dreieinige Gott.